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Vom Wert und der Zukunft des Lesens

16.06.2025

Nimmt die Lesekompetenz wirklich ab? Oder verbirgt sich hinter der Klage darüber eher eine Kritik an dem, was und wie gelesen wird? Ein Interview über Aufmerksamkeit und Lektürewahl

Die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Lesens ist Thema der LMU-Princeton Summerschool, die vom 16. bis 18. Juni 2025 an der LMU stattfindet. Im Interview sprechen Susanne Reichlin und Carlos Spoerhase, beide Inhaberin bzw. Inhaber eines Lehrstuhls für Literaturwissenschaft an der LMU, darüber, wie unterschiedliche Formen von Aufmerksamkeit und Ablenkung unsere Lektürepraktiken beeinflussen.

Aktuell wird geklagt, dass die Lesekompetenz schwinde. Niemand würde sich mehr auf längere Texte konzentrieren, weil unsere Aufmerksamkeitsspanne inzwischen zu kurz sei. Steht es wirklich so schlimm ums Lesen?

Carlos Spoerhase: Im Moment wird diese Klage überall geäußert. Egal, welches Feuilleton man aufschlägt: Es heißt, dass die Bereitschaft, längere Texte zu lesen, drastisch abnimmt. Es ist aber schwer zu beurteilen, ob das wirklich stimmt. Das sind meist sehr anekdotische, oft auch von Professorinnen oder Gymnasiallehrern geäußerte Befürchtungen.

Man kann ja andererseits sehen, dass Jugendliche zumindest in Bereichen wie Young Adult Fiction überhaupt kein Problem haben, Tausende von Seiten konzentriert zu lesen.

In den Debatten kommt es häufig auf die Genres an, denen Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Und wenn es die ‚falschen‘ sind, in diesem Fall keine hochkanonische Literatur, sondern vielleicht Romantasy, spielt es plötzlich überhaupt keine Rolle mehr, dass dafür viel Aufmerksamkeit aufgewendet wird. Es geht dabei also immer auch darum, was wertvolle Aufmerksamkeit ist und was wertlose.

Zwei junge Frauen sitzen in einer Bibliotthek und nehmen ein Selfie auf

Viele jüngere Lesende teilen ihre Lektüre-Erfahrungen in den sozialen Netzwerken und recherchieren dort neuen Lesestoff.

© picture alliance / Westend61 | William Perugini

Frau Reichlin, Sie forschen im SFB Vigilanzkulturen in einem Projekt, das zeitlich lange vor dem 19. Jahrhundert beginnt. Wie wurde damals um die Aufmerksamkeit der Lesenden gerungen?

Susanne Reichlin: Man hat heute den Eindruck, der beklagte Verlust der Lesefähigkeit habe primär mit den neuen Medien zu tun und sei somit ein ganz aktuelles Problem. Aber Klagen über die ‚Zerstreuungssucht‘ und den Verfall der Kultur, weil niemand sich mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren vermag, waren auch vor 100 Jahren schon allgegenwärtig. Es ließen sich vermutlich problemlos Texte finden, die den heutigen Klagen entsprächen.

Man kann auch noch weiter zurückblicken. Zum Beispiel thematisieren spätantike Schriften die Frage: Wie kann ich mich auf das ‚Eine‘ (Gott) konzentrieren? Die Eremiten, die tagelang konzentriert die Heilige Schrift lesen wollten, hatten ähnliche Probleme wie die Menschen heute: Weshalb habe ich ständig Gedanken, die mich vom ‚Eigentlichen‘ ablenken oder mich dazu verführen, mich mit anderem als dem Text, der vor mir liegt, zu beschäftigen?

Man sieht beim Blick in die Geschichte auch, dass Aufmerksamkeit schon in der Spätantike als eine sehr begrenzte, fehlbare Fähigkeit verstanden worden ist. Es gab ein großes Interesse für Schilderungen der scheiternden Aufmerksamkeit und des ‚mind-wandering‘.

Carlos Spoerhase: Auch in der Aufklärungsepoche wurde sehr intensiv über das Verhältnis von Aufmerksamkeit und Zerstreutheit nachgedacht. Es wurde versucht, die Ablenkung als etwas Positives darzustellen, also nachzuweisen, dass es vielleicht sogar kognitive Vorteile mit sich bringt, wenn man sich nicht nur auf eine einzige Sache konzentriert. Philosophen wie Denis Diderot oder Schriftsteller wie Laurence Sterne versuchten auf unterschiedliche Weise zu zeigen, dass das Abgelenktsein etwas ungemein Kreatives und intellektuell Reizvolles haben kann. Es befreit einen in gewisser Hinsicht auch von bestimmten politischen und gesellschaftlichen Autoritäten, die uns Aufmerksamkeit für bestimmte Dinge oktroyieren möchten.

Aufmerksam sein, aber wofür?

Es geht ja beim Lesen auch um geteilte Aufmerksamkeit. Momentan scheinen, sogar auf Social Media, wieder Leseclubs im Kommen zu sein. Wie neu bzw. alt ist das?

Carlos Spoerhase: Im 18. Jahrhundert war Lesen eine zentrale Form der Vergemeinschaftung. Entweder indem man am selben Ort anwesend war und eine Person laut vorlas, während die anderen zuhörten. Oder durch den intensiven brieflichen Austausch über das Gelesene. Das zeigt auch, dass Aufmerksamkeit für Literatur nicht etwas ist, was man allein für sich einfach so erwirbt, sondern was man in sozialen Zusammenhängen einübt – und sei es dadurch, dass Eltern vorlesen.

Das gemeinsame Einüben von Aufmerksamkeitspraktiken im Umgang mit Literatur oder anderen Künsten kann eine Zumutung sein, die mit Fremd- und Selbstdisziplinierung einhergeht. Das merkt man als Kind, wenn man die ersten Male ins Museum geschleppt wird von seinen Eltern und man dort mehr Zeit vor einem Bild verbringen soll, als einem zunächst einleuchtet. Das ist eine Form von Disziplinierung, die stattfindet, bis man irgendwann so weit ist, längere Zeitstrecken vor einem Rembrandt verbringen zu können, ohne gelangweilt zu sein und die Aufmerksamkeit zu verlieren. Diese Form der Selbstdisziplinierung hat viel damit zu tun, wie Subjekte sich selbst bilden und formen.

Susanne Reichlin: Aufmerksamkeit für sogenannte Hochkultur und abfällige Bemerkungen über zum Beispiel Social Media als Zerstreuung sind auch etwas sehr Schichtspezifisches. Es ist ein Distinktionsmechanismus, durch den sich Gruppen mit bestimmten Bildungsniveaus von anderen Schichten abzugrenzen versuchen.

Carlos Spoerhase: Ja, man tut so, als wenn es um die Fähigkeit geht, aufmerksam zu sein. Aber wenn man genauer hinsieht, wird deutlich: Es ging und geht darum, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird. Ob man also zum Beispiel den B-Movie anschauen geht oder einem kanonisierten Roman oder eben einem Rembrandt-Gemälde seine Aufmerksamkeit schenkt.

Bestimmte Schichten oder Kulturen universalisieren ihr eigenes Aufmerksamkeitsmodell und tun so, als sei das die Form, wie Menschen idealerweise aufmerksam sind und zu sein haben. Viele parallel bestehende Formen von Aufmerksamkeitshaltung werden in diesem Zuge delegitimiert.

Dicke Schmöker und innovative Formate

Sehen Sie, dass die Literatur auf die angeblich veränderte Aufmerksamkeit seitens der Lesenden reagiert?

Carlos Spoerhase: Es ist sehr schwer zu beurteilen, was in der Gegenwart passiert, weil es sehr wenig Forschung dazu gibt, Aufmerksamkeitsverhalten nicht nur anthropologisch oder psychologisch zu verstehen, sondern selbst radikal zu historisieren. Möglicherweise ist die Aufmerksamkeitshaltung, die im 18. Jahrhundert diskutiert wurde, als umfangreiche Romane von Samuel Richardson gelesen wurden, eine ganz andere als unsere heutige, obwohl damals dieselben Begriffe wie heute benutzt wurden.

Es gibt heute weiterhin sehr umfangreiche Romane, sogar solche, die mit ihrem Umfang geradezu prahlen und von Leserinnen und Lesern fordern, sich dem ein Stück weit zu unterwerfen. Es gibt aber natürlich auch viele innovative kürzere Formen.

Susanne Reichlin: Es gibt auch das Feld der Instapoetry, die auf neue Lesegewohnheiten reagiert. Bilder, Layout und die Rezeptionsgemeinschaft spielen hier zum Beispiel eine viel größere Rolle als bei der herkömmlichen Lyrik. Sie schafft und erhält so auf andere Art Aufmerksamkeit als Poesie im Medium des Buches.

Carlos Spoerhase:
Eine der erfolgreichsten Lyrikerinnen auf der Welt ist im Moment Rupi Kaur, die ihre Lyrik zum ersten Mal auf Insta veröffentlicht hat und auf diese Weise ein ganz anderes Publikum global zu finden vermag als über einen herkömmlichen gedruckten Gedichtband.

Verschiedene Formen des Lesens einüben

16 Jun

Veranstaltung im Rahmen des LMU-Princeton Seminars mit Uljana Wolf

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Im Titel des Graduate Seminars, das Sie organisieren, wird auch die „Zukunft des Lesens“ erwähnt. Wie sehen Sie diese? Lesen denn Ihre Studierenden?

Carlos Spoerhase: Ja. In den USA gibt es gerade eine große Debatte, dass die Studierenden nicht mehr so viel lesen wie früher, als man im Wochentakt zwei umfangreiche Werke zu lesen aufgab. Es wird aber nicht gefragt, wie genau diese dicken Romane damals gelesen wurden.

Es gibt zweifellos verschiedene Formen der Lektüre und vielleicht wurde früher manchmal auch recht schnell und oberflächlich gelesen. Es wäre schön, wenn der Diskurs über die Lektürepraktiken und wie sie sich in der Gegenwart verändern zu mehr Ehrlichkeit führen würde und dazu, dass man sich von einer normativen Perspektive löst und mit größerer Neugierde darauf blickt, wie es wirklich in der Praxis funktioniert.

Susanne Reichlin: Ich bin als Germanistin in der Hochphase des Close Reading sozialisiert worden und habe Seminare besucht, in denen wir in 90 Minuten drei Sätze gelesen haben. Vor circa zehn Jahren änderte sich das nicht zuletzt deshalb, weil durch Distant Reading (also digitale Lesetechniken) plötzlich wieder große Mengen an Literatur (zum Beispiel 100 Romane) analysiert werden konnten. Was wir den Studierenden heute beibringen müssen, ist, dass sie in unterschiedlichen Geschwindigkeiten lesen können und wissen, wann und wofür sie welche Lesepraxis brauchen.

Carlos Spoerhase: In welchem Maße die Studierenden hochkonzentriertes Lesen einüben sollten, ist eine Frage, über die sich die Philologien wieder neu verständigen müssen. Auch inwieweit das eine kulturelle Praxis ist, die in anderen Teilen der Gesellschaft vielleicht verloren geht. Es gibt von Friedrich Nietzsche das sehr schöne Zitat, dass Philologie nichts anderes ist als eine Einübung in das aufmerksame Lesen. Gerade vor dem Hintergrund der Möglichkeit, Generative KI für sich lesen zu lassen, ist es wichtig, die Studierenden für die Fragen zu sensibilisieren und die Reflexion über die Komplexität des Lesens Teil des Studiums werden zu lassen.

LMU-Princeton Sommerschool

Vom 16. bis 18. Juni 2025 findet an der LMU das LMU-Princeton Graduate Seminar statt zum Thema „Die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Lesens“. Die beteiligten Doktorandinnen und Doktoranden werden in Vorträgen und Workshops der Kulturgeschichte der Aufmerksamkeit nachgehen. An allen drei Abenden gibt es öffentliche Veranstaltungen, die um 19 Uhr beginnen.

Am 16. Juni spricht die Schriftstellerin Uljana Wolf über Fliehklang und Grammargirls , am 17. Juni Professor David Marno (UC Berkeley) On Falling asleep und am 18. Juni Professor Jeff Dolven (Princeton University) über Attention and Metaphor .



Zur Person

Prof. Susanne Reichlin lehnt an einem Bücherregal im Philologicum

„Die in den Medien breit geführten Diskussionen übers Lesen haben auch stark mit unseren eigenen Arbeitspraktiken zu tun. Man merkt, dass die Journalistinnen und Journalisten oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst unter den digitalen Ablenkungen leiden und sich fragen, wie sie ihre Aufmerksamkeitsspanne oder ihre Arbeitsgewohnheiten verändern können“, sagt Susanne Reichlin. | © LMU/Stephan Höck

Prof. Dr. Susanne Reichlin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit einem Schwerpunkt auf der Texttheorie. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit „Literarischen Dynamiken von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in der geistlichen Literatur des Mittelalters“ im Rahmen des SFB Vigilanzkulturen.

Susanne Reichlin ist zudem eingebunden in den neuen Exzellenzcluster Cross-Cultural Philology .

Mehr zur Forschung von Susanne Reichlin:

Interview: Hatespeech von Luther in die Gegenwart

„Wir sollten im Hinblick auf unsere Lektürepraktiken ehrlicher und neugieriger sein und nicht nur normativ darüber sprechen, was wir so alles lesen sollten“, sagt Carlos Spoerhase. | © LMU/Florian Generotzky

Prof. Dr. Carlos Spoerhase ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Literatursoziologie und Wissenschaftsgeschichte. Er forscht im Projekt „Wachsames Lesen“ im Rahmen des SFB Vigilanzkulturen über Hermeneutische Hellhörigkeit in der literarischen Vigilanzkultur des 19. Jahrhunderts“.

Carlos Spoerhase ist zudem eingebunden in den neuen Exzellenzcluster Cross-Cultural Philology .

Mehr zur Forschung von Carlos Spoerhase:

Interview: Von der Kunst des Kürzens in der Literatur

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